von Pfarrer Dr. Roland Hosselman

renovieren

„Wie kommt ihr dazu, euch noch nach mir altem, elendem, stinkendem Madensack zu benennen?“ In diesen Worten, mit denen Martin Luther höchstpersönlich der Gefahr entgegen getreten ist, die Sache der Reformation auf seinen Namen festzulegen, erklärt unser Reformator, dass die Sache, um die es geht, größer ist als er selbst. So viel größer, dass er im Vergleich dazu eben nur ein alter „Madensack“ ist.

Dieser Selbsteinschätzung Luthers korrespondiert eine Überzeugung, die eine spätere Zeit auf die Formel gebracht hat: ecclesia semper reformanda! Diese Formel besagt, dass die Kirche innerlich und wesentlich vor der Herausforderung steht, sich ständig zu erneuern, immer wieder aufs Neue, wie Karl Barth es formuliert hat, „mit dem Anfang anzufangen“. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe. Zum einen lauert damals wie heute die Gefahr, dass die Kirche zwar noch von Gott redet und vorgibt, auf seiner Seite zu stehen, in Wirklichkeit aber selber längst aus dem Glaubens- und Vertrauensgespräch mit Gott ausgestiegen ist, nicht mehr auf sein Wort hört, nicht mehr in seinem Licht steht, nicht mehr von seinem Geist bewegt ist. Zum anderen hat die Kirche den Auftrag, das Evangelium auf den Leuchter zu heben und in die Welt hinauszutragen. Die Welt und der Mensch in ihr ändern sich aber mit der Zeit. Also muss sich auch die Kirche ändern, um an ihrem Auftrag, der bleibt, dran zu bleiben. Das fängt bei der Sprache an, geht weiter über den Internetauftritt und hört bei der Musik auf.

Kann der Blick zurück auf dem Weg nach vorn eine Hilfe sein? Ja! Ich glaube, dass die Beschäftigung mit der reformatorischen Theologie und die Erinnerung an einige ihrer Erkenntnisse uns helfen kann, die so dringende Aufgabe der Reformation hier und heute zuversichtlich in Angriff zu nehmen. Drei Punkte möchte ich herausstreichen und zwei weitere wenigstens streifen.

Allein durch die Gnade

Am Wichtigsten ist für mich der reformatorische Grundsatz des sola gratia. Wie komme ich in ein heilvolles Gottesverhältnis? – Einzig und allein aus Gnade. Von allen Kirchenvätern und -müttern können wir lernen, dass die wichtigste Beziehung, in der ein Mensch steht, seine Beziehung zu Gott ist. Dass Gott in dieser Beziehung die Initiative ergreift, hier A und O ist, darauf hat Luther alles Gewicht gelegt. Papst Franziskus hat mir aus dem Herzen gesprochen, als er in seiner Ansprache bei der Auftaktveranstaltung zum Reformationsjubiläum in Malmö hervorstrich, dass in dieser Erkenntnis der allem menschlichen Tun und Lassen zuvorkommenden Gnade Gottes das bleibende ökumenische Verdienst Luthers bestehe. Durch Jesus Christus hatte Luther einen Gott kennen gelernt, der ihn liebt und den er lieben kann. Angesichts der gravierenden Missstände seiner Zeit holte Luther zu einem Gegenschlag aus. Das aber geschah im Zentrum nicht durch eine Moral-, sondern durch eine Gnadenpredigt, nämlich durch eine Predigt von dem Gott, der Sünden vergibt und aus dem Weg räumt, was mich von ihm trennt. So kam in den Blick, dass jeder Mensch von Gott her einen unbedingten Wert hat. Einen Wert, der un-bedingt ist, also nicht abhängt von unseren Noten, unserem Titel, unserer Stellung, unserem Portemonnaie, unserer Attraktivität, davon, ob wir schon Alzheimer haben oder noch nicht. Gott sagt uns, dass er uns so liebt, wie wir sind, und dass wir dafür weder etwas tun können noch etwas dafür tun müssen. Das macht keineswegs alles richtig, was wir tun, aber es zeigt uns, dass wir einen Wert haben vor allem unserem persönlichen Sein, Tun und Lassen. Das ist der Kern. Und an diesem Kern möchte ich mich bis zu meinem letzten Atemzug orientieren.

Die Bibel in deutscher Sprache

Ein weiteres Vermächtnis sehe ich in dem Entschluss Luthers, die Bibel ins Deutsch zu übersetzen und damit die Heilige Schrift in die Hände von Hinz und Kunz zu legen. Was jeder lesen kann, kann bekanntlich auch jeder falsch verstehen. Luther war bereit, dieses Risiko einzugehen. Er war der Überzeugung, dass die unbestrittenen Nachteile durch diesen einen Vorteil bei weitem überwogen werden: dem Wort der Heiligen Schrift unmittelbar begegnen. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, direkt und ohne vermittelnde Instanzen mit Gott in Beziehung treten zu können. Das Wort ermöglicht direkte Kommunikation. An dieser Möglichkeit möchte ich auch weiterhin gegen klerikale und professorale Tendenzen festhalten.

Reduziert auf das Wesentliche

wieskircheWas die Innenausstattung einer katholischen Kirche betrifft, zitiert Peter Gauweiler seine Oma aus Bayern mit dem Satz: „Da steht zu viel rum, da kann man gar nicht richtig beten.“ Ich hatte bei einem Ausflug nach Prag vor zwei und bei einer Radtour von Passau nach Wien vor einem Jahr reichlich Gelegenheit, mich an dieses Statement zu erinnern. Was für eine Bilderflut! Und die ist ja im Lauf der Zeit nicht etwa gesunken; vielmehr ganz im Gegenteil durch Fernsehen, Kino und Internet ins Astronomische gestiegen. Da ist eine Gegenbewegung angesagt, die dadurch in Gang kommt, dass wir in reformatorischer Tradition das Wort in den Mittelpunkt stellen, jenes Wort, das nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums „im Anfang“ war. Diese Mittelpunktstellung des Wortes hat viele Facetten. So ist für uns die Kirche ein Raum, in dem jeder seine Stimme erheben darf. Bei uns gibt es Rede und Gegenrede. Das beinhaltet die Aufforderung, das Argument, den Diskurs und den Formulierung gewordenen Gedanken wertzuschätzen. Heraus kommt dabei auch eine Meinungsvielfalt. Die gilt es zulassen. Selbst wenn das schwer fällt. Schließlich hat bei uns sogar der Zweifel eine Heimat.

Wenigstens am Rand möchte ich noch erwähnen, dass ich die berühmte Devise Luthers, dem „Volk aufs Maul zu schauen“ als einen bleibenden Impuls verstehe, dem Menschen das Evangelium in einer Form mitzuteilen, die ihm vertraut ist, die seinem Lebensgefühl entspricht, die er kennt, die ihn anspricht und mitnimmt. Vor dem Hintergrund der Erfahrung zweier totalitärer, politischer Systeme und der aktuellen Auseinandersetzung mit dem religiösen Terror ist für mich außerdem Luthers massives Pochen darauf, dass zwischen Staat und Kirche unterschieden werden muss, von enormer Aktualität. Nur im Rahmen dieser Unterscheidung kann es Glaubens- und Gewissensfreiheit geben. Diese Glaubens- und Gewissensfreiheit aber ist die Mutter aller Freiheiten, weil sie unser Innerstes berührt und sich von ihr aus Verbindungslinien zu allen anderen Freiheiten ziehen lassen, zur Meinungs- Presse- und Versammlungsfreiheit.

Was können wir heute von der Reformation damals lernen? Ich fasse schlagwortartig zusammen: die Priorität der Gnade inmitten einer Leistungsgesellschaft; die Möglichkeit, mit Gott direkt Kontakt aufzunehmen; die Hoch- und Wertschätzung des Wortes in einer Flut der Bilder; der Auftrag zur Aktualität und Modernität; die Unterscheidung von Staat und Kirche.

Über manches, was damals in den Wirren von Reformation und Gegenreformation geschah, ist die Zeit mittlerweile hinweggegangen. Manches davon erfüllt unser Herz heute mit einem Gefühl von Scham und Schuld. Aber jene Punkte sind für mich wie frisch gefallener Schnee. Und hier könnte von Martin Luther gelten, was die Klosterfrau Melissengeist-Werbung so ausgedrückt hat: „Nie war er so wertvoll wie heute.“

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Dr.  Roland Hosselmann

ist Pfarrer der Evangelischen
Kirchengemeinde Lippstadt